Meine Mutter, „’es Mariechen“ wurde 88 Jahre alt.
Geboren am 3. Februar 1910 in Sonneberg, als jüngstes Kind der Eltern Berta geb. Jobst und Oskar Liebermann. Ihr sehnlichster Wunsch, das Millennium, die Jahrtausendwende miterleben zu können, ging leider nicht in Erfüllung. Sie verstarb am 17.August 1998 nach einem bewegten Leben voller Höhen und Tiefen. Wenn ich an meine Mutter zurück denke, sehe ich eine immer aktive, jung gebliebene, starke und liebevolle Mutter und Frau vor mir.
Mariechen wuchs in Sonneberg in der Schleicherstrasse 7 auf, mit den Geschwistern Hermann, Theodor, Martha, Minna, Emmi und Anna. Anna verstarb jedoch schon früh, mit 18 Jahren. Maria verbrachte eine schöne, aber aufregende Kindheit, denn es kam bald der 1. Weltkrieg.
Meine Mutter hatte ein gutes Gedächtnis, sie erzählte uns oftmals Geschichten und Anekdoten aus ihrer Kindheit. So konnte sie sich genau daran erinnern, dass sie zusah, als in Sonneberg die Musterung der Pferde für den 1. Weltkrieg vorgenommen wurde.
Sie war als kleines Kind Tanz-Mariechen und sie konnte mit 4 Bällen jonglieren, das hatte sie von einem Bruder des Vaters gelernt, der sich um 1920 einem Wanderzirkus anschloss. Noch mit über 80 Jahren führte sie uns diese Kunststücke vor. Auch erzählte sie von dem Grammophon, das der Vater besaß. Jedes Jahr zu Weihnachten wurde die Schellackplatte aufgelegt. Den Text wusste sie auswendig und auch wir, Monika und Isabella wie auch unsere Kinder kannten die Geschichte die jedes Jahr zu Weihnachten erzählt wurde.
Der Vater Oskar, war Porzellanmaler. Er bemalte Puppenköpfe, wie es in der Spielzeugstadt Sonneberg häufig vorkam. Alles drehte sich dort um das Spielzeug, eine gute Erwerbsmöglichkeit für die Familien, denn es wurden viele Spielzeuge in Heimarbeit gefertigt.
Auch der Vater arbeitete in Heimarbeit und Mariechen begleitete ihn oft bei der Auslieferung der fertigen Waren. Mit Huckelkorb und Handwagen zogen sie dann los, manchmal bis nach Steinach, Hüttengrund oder Neuhaus. Es war selbst- verständlich, dass die Kinder oft mitarbeiteten. Auch auf dem Weg zur Schule half Mariechen mit, sie band beim Gehen kleine Schleifchen für die Puppenperücken. Sie war eine gute Schülerin, aber trotz Drängen des Lehrers durfte sie nicht auf die höhere Mädchenschule, der Vater brauchte sie zur Arbeit.
Damals waren die Menschen noch Individualisten, jede Arbeit war recht. Man musste seine Familie ernähren. Deshalb hatte Oskar immer neue Ideen, einmal hatte er einen Handel mit Kleintieren wie Vögeln und Fischen, dann eröffnete er Ende der 20er Jahre ein Lebensmittelgeschäft. Die Zeiten waren aber schlecht und es gab die Lebensmittel nur auf Marken.
1929 verlobte sich Mariechen mit Hellmut Hermann, ältester Sohn des Fabrikanten Bernhard Hermann aus Sonneberg. Aber mit der Hochzeit musste noch lange gewartet werden. Dann 1934, die Hochzeitsvorbereitungen waren in vollem Gange, verstirbt plötzlich der Vater Oskar. Maria trägt am 19. Mai ein schwarzes Brautkleid. Im gleichen Jahr noch wird das erste Kind, Gudrun, geboren.
Zwei Weltkriege hat Maria miterlebt, den ersten als Kind, den zweiten als Frau und Mutter. Von Kaffeekränzchen mit der Nachbarschaft in der Schleicherstraße hat sie oft geschwärmt. Hübsche Handarbeiten wurden dabei gefertigt. Von Siancen hat mit ihren Geschwistern hat sie berichtet und uns Kindern schauderte es dabei. Mariechen konnte auch gut nähen. In der Faschingszeit wurden Kostüme angefertigt, die dann an Kunden verliehen wurden. Mitte der 30ger Jahre arbeitete sie einige Zeit bei den Schwiegereltern im Betrieb. Der Schwager Werner entwarf neue Muster und Mariechen konnte sie nähen. So manche Erinnerung daran hat sie uns erzählt. Aber dann änderte sich alles.
 Der Ehemann Hellmut weilt gerade zur Genesung einer Malaria- erkrankung im Bamberger Lazarett, als am 23. Dezember 1942 die Tochter Gudrun an einem nicht erkannten Blinddarmdurchbruch verstirbt. Die Ärzte im Krankenhaus vermuteten Bauchweh wegen zuviel Plätzchenteig. Die Operation kam für Gudrun zu spät. Der Eiter quoll aus dem Bauch des Mädchens, die Ärzte nähten wieder zu und sagten, es ist nichts mehr zu machen. Verwundete Soldaten, die im Krankenhaus lagen, hörten die Weihnachtslieder, die Gudrun sang. Am nächsten Tag waren sie verstummt, Gudrun war mit 8 Jahren gestorben. Mancher Soldat fragte, warum das Kind nicht mehr sang, es war doch so schön gewesen. Sie waren alle tief erschüttert.
Im Juli 1944 wird die 2. Tochter Monika geboren und 1947 kommt Isabella auf die Welt. Aber immer gedachte man Gudrun. Ihr Bild wurde stets mit frischen Blumen geschmückt und als wir Mädchen älter wurden, erzählte uns Mutter immer wieder von ihrer Gudrun, unserer älteren Schwester, die wir nie gekannt haben.
Nun kam die Teilung Deutschlands. Den Lebensmittelladen hatte man inzwischen aufgegeben und die 4-köpfige Familie zog in das Wohnhaus der Schwiegereltern in die Alte Neufanger Straße. Im Garten des großen Anwesens konnte sie nun die Schwiegereltern entlasten. Auch gab es Hühner und Hasen, die versorgt werden mussten und die Ernte der Obstbäume im oberen Garten wollte verarbeitet und gelagert werden. Man sammelte sogar die Tannenzapfen im Garten und dem nahen Wald zum Anheizen. Einmal wurden so viele unter dem Dach des Schuppens gelagert, dass die sich aufspreizenden Zapfen, das Dach anhoben. Oft bewunderte Bernhard seine Schwiegertochter, wie sie die viele, schwere Arbeit schaffte.
Im Jahre 1948 ereignete sich ein seltenes Phänomen. Während eines Gewitters verirrte sich ein Kugelblitz in die Wohnung und rollte genau auf meinen Stubenwagen zu. Meine Mutter sah den Blitz, riss mich aus dem Bettchen und öffnete geistesgegenwärtig die nahe Ofentüre, in die der Kugelblitz dann verschwand und den Kamin hoch donnerte.
Und wieder bahnte sich eine Veränderung an. Die Geschäftslage wurde kritisch, eine Verstaatlichung des Plüschspielwarenbetriebes von Schwiegervater Bernhard drohte. Es musste gehandelt werden. Am 23. Januar 1953 war dann der große Aufbruch in eine neue Zeit. Die Familien Hermann verließen auf getrennten Wegen, die Männer im Auto, die Frauen und Kinder per Eisenbahn, die Heimatstadt Sonneberg in Richtung Berlin, nur mit kleinem Gepäck. Auf Westberliner Boden traf man sich bald wieder, alles war gut gegangen! Nach einigen Tagen in Westberlin zur Beantragung der Pässe und anderer Formalitäten, ging der Weg weiter, per Luftbrücke nach Nürnberg und dann weiter nach Hirschaid. Hier war ab jetzt der neue Lebensraum für die Familie. Im Jahr vorher war Maria´s Mutter im 81. Lebensjahr verstorben. Maria ließ nicht nur Ihre Geschwister mit Familien in Sonneberg zurück, sondern auch viele private Erinnerungen und Gegenstände. Nach der Flucht wurden von der Vopo die Wohnungen durchsucht und viele persönliche Sachen, wie Bilder, Bücher und Andenken aus dem Haus geworfen und den Glasbach herunter gespült. Mancher Sonneberger hat etwas aus dem Bach gerettet, was erst Jahre oder Jahrzehnte später die Familie erreichte.
Der neue Anfang in Hirschaid wurde gemeistert, der Thüringer Dialekt mischte sich allmählich mit dem fränkischen, doch ganz verloren hat Mariechen ihn nie. Die besonderen Ausdrücke in der Heimatsprache lernten sogar noch ihre Enkel kennen. Gute und schlechte Ereignisse wechselten sich ab. So lernte Maria gerne neue Menschen kennen, durch den früheren Laden fiel ihr das nicht schwer. Gute Bekannte wie Frau Lehmann, Fritzi Schön oder Nachbarin Frau Rohleder ließen sie sich heimisch fühlen in Hirschaid. Doch schon wieder drohte Unheil. Tochter Monika erkrankte an Kinderlähmung. Durch viel Zuwendung und Pflege überstand Monika diese schwere Zeit, aber auf eine vollständige Genesung musste lange gewartet werden. Inzwischen hatte der Umzug ins neu gebaute Wohnhaus stattgefunden. Mariechen fühlte sich wieder richtig wohl. Ein großer Garten, ein Springbrunnen und Blumen, überall pflanzte sie Blumen. Sie kochte jeden Sonntag Ihre „Rutschklöße“ und auch der Guggelhupf fehlte kein Wochenende. Oder der Serviertenkloß mit Braten und Beifußsoße - noch heute läuft uns das Wasser im Munde zusammen. Mutti war die perfekte Hausfrau, sie liebte ihre Familie, ihr Haus und ihren Garten über alles.
Maria und Hellmut gönnten sich schöne Reisen, zur Silberhochzeit nach Spanien, 1960 nach Jugoslawien, 1961 nach Schweden und Finnland, 1963 Mallorca und 1978 nach Israel. 1964 besuchten wir meinen Brieffreund, Altan in der Türkei. Er kam später zu uns nach Deutschland, lebte bei meinen Eltern und studierte in Erlangen. Er war wie ein Sohn im Haus und wurde ordentlich bekocht.
Aber wir hatten auch im Sommer 1960 ein schwedisches Mädchen zu Gast. Ihre Gruppe reiste nach Deutschland um hier ein schwedisches Singspiel aufzuführen. Pfarrer Blos suchte Gasteltern und meine Eltern nahmen Birgith für einige Tage bei uns auf. Wir verstanden uns sofort, Birgith sagte bald Vati und Mutti zu meinen Eltern und so blieb es nicht aus, dass wir sie im folgenden Jahr in Schweden besuchten. 1985 nahm Monika wieder die Verbindung auf und reiste mit ihren Söhnen nach Schweden. Als Birgith dann 1986 zum ersten Mal mit ihrer eigenen Familie wieder zu uns nach Hirschaid kam, war Mutti überglücklich. Die Verbindung besteht noch heute zu Birgith und ihrer Familie. Sie besuchte uns in Hirschaid viele Male und der Sohn Eric wohnte einige Zeit bei Mariechen, als er in Bamberg studierte.
Nachdem wir Töchter beide aus dem Haus waren und sie nicht mehr zu Besorgungen mitnehmen konnten, entschloss sie sich noch mit knapp 60 Jahren den Autoführerschein zu machen. Mit einem dunkelgrünen VW-Käfer war sie dann mobil!
Nach und nach kamen viele Enkelkinder, Horst 1963, Frank 1968, Andrea 1969, Ingo 1970, Jan 1974 und Victoria 1983. Maria liebte ihre Enkelkinder, sie war stolz und glücklich. Oftmals durften sie bei Oma übernachten, manchmal gar drei bis fünf auf einmal, besonders im Februar wenn alle anderen Familienmitglieder auf der Spielwarenmesse in Nürnberg waren. Es war eine glückliche und schöne Zeit. Sie nahm sich gerne die Zeit um für alle auf Weihnachten Stollen zu backen und „kistenweise“ Spritzgebäck für die Enkel, die auch gerne mithelfen durften. Zu Ostern bekamen die Enkel immer frisch gebackene Zucker-Brezen. Auch die Besuche aus Sonneberg, Geschwister von Mariechen, brachten immer neuen Wind und animierten zu schönen Sonntagsausflügen. Schwester Minna wohnte einige Jahre mit im Haus und arbeitete auch in der Firma. So war der Tag für Maria ausgefüllt und glücklich.
Im Jahr 1984 konnten Mariechen und Hellmut die Goldene Hochzeit feiern. Die Töchter Monika und Isabella richteten die Feier aus und alle Enkel waren da und viele Verwandte und Freunde. Wir feierten zu Hause ein wunderschönes Fest. Lange noch erzählten sie glücklich von diesem schönen Tag.
Der plötzliche Tod von Hellmut 1985 war sehr schmerzlich. Ohne den Ehemann Hellmut konnte sich Maria das Leben nicht vorstellen, sie waren sich 57 Jahre lang vertraut gewesen. Doch Monika und ich waren immer für unsere Mutter da, wir versuchten, ihr weiterhin das Leben abwechslungsreich zu gestalten. Oft nahmen wir sie auf Reisen mit oder verbrachten zusammen einige Tage in Bad Füssing. Sie war uns immer sehr dankbar dafür. Von unserer Reise nach Rimini war sie so sehr begeistert und sagte: „Das ist für mich der erste Urlaub am Badestrand. Sowas habe ich nie vorher erlebt!“ Voll glücklicher Begeisterung bestieg sie mit mir die Burg von San Marino. Auch Bessi war für Mariechen ein guter Gesellschafter, denn sie ging sehr gerne spazieren und Bessi, der graue, schottische Hütehund aus dem Tierheim, der 1982 von den Eltern „adoptiert“ wurde, wollte auch jeden Tag laufen. In den 60ern gab es schon Flocki, ein Mischlingshund, ähnlich einem Fox-Terrier, lieb und gescheit. Er brachte uns viel Freude und er gehörte dazu, in das Leben von Hellmut und Mariechen.
Allmählich wurde es ruhiger. Die Besuche der älteren Geschwister aus Sonneberg wurden weniger. Aber die Grenze zwischen Ost- und West-Deutschland gab es nicht mehr und so kamen auch mal die Kinder der Geschwister zu Besuch. Zwar nur kurze Zeit, aber Maria genoss die Verwandtenbesuche sehr. Auch fuhren wir gerne mit ihr nach Sonneberg, sie konnte uns vieles zeigen und wusste immer so viele Geschichten aus der Jugendzeit in Sonneberg.
Mariechen verblühte wie eine Blume. Immer schwerer vielen ihr selbst ihre geliebten Handarbeiten, die Kreuzworträtsel und das Lesen der Romane. Ab 1995 kümmerte sich Frau Mandlik, eine aufopfernde Gesellschafterin, täglich um meine Mutter. Die Wochenenden verbrachte sie abwechselnd bei Monika und Isabella. Mutti erlebte noch meinen 50ten Geburtstag. Aber dann wurde es immer mühsamer für sie, Mariechen konnte und wollte nicht mehr.
Bessi war schon nicht mehr da und nun sollte das Leben wohl seinen Abschluss finden. Nach nur 4 Tagen rundum Betreuung schloss sie am 17.8.98 in meinen Armen für immer die Augen. Die Uhr schlug gerade 8 Mal, es war 20 Uhr abends, als ich Mutti in den Armen hielt. Ein großes und bewegtes Leben war zu Ende gegangen.
Am Abend des Millenniums dachten wir alle, die gesamte Familie, bewegt und voller Stolz an unsere Mutter und Oma, die diese Stunden so gerne miterlebt hätte. Sie hat ihn durch uns miterlebt! Es war ein großartiger Silvesterball in Hirschaid. Wir haben gefeiert und getanzt, so wie es unsere Mutter sehr gerne getan hat. Tanzen, das war eine Leidenschaft für Mariechen und sie waren ein schönen Paar, Mariechen und Hellmut!
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